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Echos

 

Larry Rinder im Gespräch mit Stefan Kürten, 2013



Larry Rinder: Deine letzte Ausstellung in New York 2012 war großartig. Seltsamerweise haben sich die Darstellungen von Unordnung in einigen der Gemälde ja später bewahrheitet, als Chelsea überflutet und mit Schutt und Trümmern übersät war. Würdest Du Deine Arbeiten als futuristisch bezeichnen?


Stefan Kürten: Jedenfalls nicht im Sinne einer Prophezeiung. Sie befassen sich mehr mit der Gegenwart, der Art und Weise wie wir heutzutage fühlen, uns und unsere Welt erleben – und natürlich mit der Vergangenheit, unserem Umgang mit Erinnerungen, seien diese nun »echt« oder »unecht«. Die futuristische Eigenschaft in meinen Bildern entspringt zwar einer Zukunft, aber es ist die Zukunft der Vergangenheit. Sie zeigt einen mit Versprechen und Verheißungen überladenen Optimismus, der in ein Korsett aus moralischen Regeln und Erwartungen gezwängt wurde. Ich denke, dass in meinen Arbeiten unterschiedliche Aspekte von Raum und Zeit miteinander verschmelzen. Genauso wie die Darstellung meiner Motive, ihre Perspektiven und Details es offen lassen, ob ein Bereich nach innen oder außen zu verorten ist, kann man ihnen kaum ansehen, ob sie einem Einrichtungsmagazin aus den Fünfzigerjahren entstammen oder auf einem Foto basieren, das ich dieses Jahr aufgenommen habe.


LR: Hast Du Deine Fotos jemals ausgestellt? Du hast ja an der Kunstakademie Düsseldorf studiert, als Bernd und Hilla Becher den Fachbereich Fotografie geleitet haben. Hatten die beiden einen Einfluss auf Dich?


SK: Ich kannte Ihre Arbeiten natürlich. In Deutschland ist die Tradition der Dokumentarfotografie durch August Sander und Albert Renger-Patzsch aber sowieso sehr präsent. Das hat heute, durch die ehemaligen Studenten der Bechers wie Andreas Gursky, Thomas Ruff und Thomas Struth eher noch zugenommen.

Anfänglich habe ich nur Fotos verwendet, die ich in Büchern und Magazinen gefunden hatte. Vom technischen Standpunkt her mussten sie in Bezug auf Objektivität, Brillanz, Tiefenschärfe und Perspektive meine eigenen, speziellen Kriterien erfüllen. Aber ich suchte auch nach einer gewissen Universalität und Anonymität, in Kombination mit etwas anderem. Etwas, das man vielleicht am ehesten mit »unheimlich« umschreiben könnte.

Als ich anfing, immer mehr Fotos selbst aufzunehmen, wurde mir klar, wie schwierig es ist, meinen eigenen Kriterien gerecht zu werden. Wenn mich ein Motiv interessiert, mache ich davon manchmal bis zu fünfzig Aufnahmen. Davon wiederum landen dann am Ende meist nur zwei oder drei in meinem Archiv. In Lauf von zehn Jahren habe ich in etwa 1500 Fotografien gesammelt.

Für mich sind sie eher Ausgangspunkte als eigenständige Kunstwerke, aber vielleicht stelle ich sie ja eines Tages aus. Während ich auf das Kameradisplay schaue und den Auslöser drücke, denke ich jedenfalls nur an mein nächstes Gemälde. Beim Malen halte ich mich nie an alle Details der Vorlagen, vielmehr »konstruiere« ich sie neu, bis genau das Fehlen jeglicher Authentizität sie »wahr« macht. Es mag widersprüchlich klingen, aber je mehr Informationen mir ein Foto zur Verfügung stellt, desto größere Freiheiten bieten sich mir, über die Beschränkungen seiner Vorgaben hinauszugehen.


LR: Was Du anfangs über den Versuch, »die Zukunft der Vergangenheit« zu erfassen, gesagt hast, erinnert mich an Jacques Derrida’s Konzept der »hantologie« (»hauntology«). Aus dieser Idee, die er in Marx’ Gespenster (Spectres de Marx,1993) entwickelt hat, wurde ein eigener Musikstil geboren: die »hauntological music«. Sie hat viele Besonderheiten, die sie mit Deinen Bildern teilt: das Unheimliche, die Einbindung von »Störungen«, den düsteren Nachhall eines Optimismus aus der Mitte des 20. Jahrhundert.


SK: Ja, die gewollte Verunsicherung in der Beziehung der hauntological music zur Vergangenheit lässt eine Art zeitliche Mehrschichtigkeit entstehen, die den räumlichen Ungewissheiten und Irreführungen in meinen Arbeiten entspricht. Zeit ist natürlich auch ein Faktor, genauso wie Musik. Für viele Merkmale der hauntological music – die Verwendung alter Synthesizer, Aufnahmen mit überholter Technik und weitere Verfremdung durch diverse »Alterungsprozesse« – gibt es Pendants in meinen Bildern: die scheinbare Vertrautheit meiner Bildmotive, ihre Herkunft, oft inspiriert von »alten« Fotografien, die goldene Untermalung, die den Farben einen verblichenen Charakter verleiht und ein unbestimmbares, gespenstisches Licht erzeugt. Und was Du als die »Einbindung von Störungen« bezeichnest, erscheint in meinen Bildern als Fragmente dekorativer Tapetenmuster, in den »falschen« Spiegelungen ganzer Bildteile oder in den subtilen Hinweisen auf eine Unterwanderung der »Idylle, wie durch eine offen stehende Tür.

Die Generation meiner Eltern hat die Schrecken des Zweiten Weltkrieges in Deutschland erlebt und musste sich mit Ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Wenn ich heute auf meine Kindheit zurückblicke, hat die Art und Weise, wie meine Eltern ihr Trauma verarbeitet haben, meine Erziehung geprägt – ohne dass sie das bemerkt haben. Die »Geister der Vergangenheit« waren immer präsent und hatten sicherlich Einfluss darauf, wer (und was) ich geworden bin. Ganz sicher haben sie Spuren in meinen Bildern hinterlassen, haben die klare und konventionelle Trennung der Sinne für »Vergangenheit«, »Gegenwart« und »Zukunft« aufgehoben.

Oft verwende ich auch Songtitel als »geliehene« Namen für meine Bilder. Auf diese Weise kann ich die Gefühle und das Geheimnis eines Musikstücks aus der Vergangenheit mit der gegenwärtigen Realität von Malerei verbinden.


LR: In manchen Bildern Deiner letzten Ausstellungen erscheinen Graffiti. Einerseits sind die »Wild-Style«-Tags eine Art Widerhall der dekorativen Muster, die in vielen Deiner Bilder unversehens auftauchen. Andererseits stören sie die verführerische, gutbürgerliche Ruhe und Gelassenheit der Motive. Viele Deiner Arbeiten sind ja eng mit Deinem Lebenslauf verknüpft. Ich frage mich daher ob, die Graffiti für Dich Erinnerungen an Deine Zeit in San Francisco wachrufen, wo Du in der Clarion Alley gewohnt hast, sicher eine der am dichtesten mit Tags und Graffiti übersäten Straßen der Welt?


SK: Seltsam, dass Du die Clarion Alley erwähnst. Für sehr lange Zeit waren meine Erinnerungen an San Francisco unter den Eindrücken und Bildern aktuellerer Ereignisse begraben. Aber vor ein paar Jahren, kurz bevor meine Mutter gestorben ist, habe ich mit ihr zusammen Fotos aus dieser Zeit, den Neunzigerjahren, betrachtet. Eines davon zeigt mein Motorrad, geparkt vor dem Gebäude, in dem ich in der Clarion Alley gewohnt habe. Meine Mutter hat nur das Graffito im Hintergrund angeschaut, das eigentlich kaum wahrnehmbar war. Dann schüttelte sie ihren Kopf und sagte: »Wir waren so froh, dass Du es zurück geschafft hast.«

Nachdem ich nach San Francisco gezogen war, hatte ich meinen Eltern genau dieses Foto geschickt. Daraufhin riefen sie ständig an und überwiesen mir sogar Geld, damit ich aus dieser Gegend wegziehen würde. Sie meinten, ich sei an einem bösen und gefährlichen Ort, wo Drogen genommen und Menschen ausgeraubt oder umgebracht werden. Wie Du weißt, ist all das ja auch wirklich passiert, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht. Ich bin in einem netten Einfamilienhaus aufgewachsen. Meine Eltern haben es in den Siebzigerjahren gebaut, mit gepflegtem Garten, in einem Vorort, einer »guten« Gegend. Für Sie verkörperten Graffiti das gleiche wie etwa vorsätzlich abgerissene Blumen in einem Garten oder die Scherben einer zerbrochenen Glasflasche vor einer Haustür: Ein Klima unterschwelliger Bedrohung – eine Bedrohung von allem, woran sie geglaubt und wofür sie gearbeitet hatten.

Ich bin mir sicher, dass ich die Albträume meiner Eltern teils bewusst, teils unbewusst in meine Malerei einfließen lasse, genauso wie ja auch meine eigene Lebensgeschichte Spuren in ihr hinterlässt.

Ich stimme Dir zu, was die Mehrdeutigkeit der »Wild-Style«-Tags angeht, die in einigen Bildern auftauchen. In der Arbeit SOH (2012) beispielsweise erfüllt das Graffito zwei Funktionen: Zum einen dient es als kompositorisches, »dekoratives« Bildelement und zugleich geht von ihm auch eine kaum wahrnehmbare Bedrohung aus, eine Störung in einem ansonsten banalen und harmlosen Geschehen.


LR: Diese Spannungsverhältnis zwischen Häuslichkeit und Gefahr lässt mich an die eigenartige Mehrdeutigkeit denken, die sich hinter dem deutschen Wort »heimlich« verbirgt. Es kann »angenehm vertraut«, jedoch auch »verborgen« oder »lauernd« bedeuten.


SK: Obwohl die Häuser und Gärten, die für meine Bilder typisch sind, auf Vorlagen aus meinem Fotoarchiv, Büchern oder Magazinen basieren, ihnen also reale Häuser und Gärten zugrunde liegen, verwandeln sie sich während des Malprozesses auf irgendeine Art und Weise in Tag- oder Albträume. Es gibt in ihnen keinerlei Spuren menschlicher Anwesenheit, die scheinbare Idylle wirkt so isoliert, dass sie Beklemmungen erzeugt. Trotzdem spürt man eine Art unterschwelliger Präsenz, wie die Aura eines unsichtbaren Geheimnisses. Etwas Unausgesprochenes, etwas, das unserer Phantasie überlassen bleibt. Ich finde »heimlich« beschreibt diese beunruhigende und aufreibende Ungewissheit wirklich sehr treffend.

Ich habe die Herkunft von »heimlich« einmal nachgeschlagen. Es entstammt dem Althochdeutsch und bedeutet ursprünglich »zum Haus gehörend«. Ich werde es bestimmt mal als Bildtitel verwenden! Und es gibt weitere Wörter, die sich von dem Wortstamm »heim«ableiten lassen, wie etwa »heimsuchen« und »heimtückisch«.


LR: Einige Deiner Bilder »finden« in Europa (vermutlich in Deutschland) »statt«, andere in den Vereinigten Staaten. Empfindest Du die Schwingung, die diese Orte in Deinen Arbeiten erzeugen, als unterschiedlich?


SK: Als ein Hauptmotiv tauchten Häuser und Gärten in meinen Bildern erstmals auf, als ich in den USA gelebt habe. Du hast damals Home, Studies for an Ideal Landscape (1989) in Berkeley für meine erste Einzelausstellung in einem Museum ausgewählt. Die Arbeit umfasst 36 kleine Gemälde, die Variationen einer immer gleichen, idealisierten Landschaft zeigen. Diese Arbeit habe ich bewusst in Deutschland »verortet«. In jedem der Gemälde wird ein ständig wechselndes Detail besonders hervorgehoben, wie das Gestänge eines Fußballtores oder ein Weihnachtsbaum. Das Malen dieser Bilder war wahrscheinlich meine Methode, mit dem Heimweh umzugehen. Während ich also versucht habe, mir in der Fremde eine neue Identität zu schaffen, hat mich eine Art Sehnsucht nach Vergangenem und Vertrautem erfasst.

Später, nachdem ich zurückgekehrt war und viel zwischen Deutschland und den USA hin- und herreiste, suchte ich automatisch nach etwas Universellerem oderArchetypischerem. Meine Bilder sollten für Europa und die USA gleich »wahr« sein. Ich wollte mit ihnen Emotionen auslösen, Gefühle und Erinnerungen wecken, die allen gemeinsam sind. Ich habe einen bestimmten Stil internationaler Architektur benutzt, wie er fast überall auf der Welt zu finden ist.

Da ich ja in den USA und in Deutschland gelebt habe, habe ich gelernt, dass ein und dieselbe Abbildung sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. Für einen Amerikaner mag beispielsweise ein soziales Wohnungsbauprojekt in Deutschland auf einem Gemälde wie ein erstrebenswerter Ort aussehen – das gilt umgekehrt genauso.

In letzter Zeit habe ich begonnen, das Besondere der verschiedenen Orte hervorzuheben, ihnen mehr Eigenheiten und Individualität zu belassen. Dadurch erschließt sich ein größerer Fundus an Assoziationsmöglichkeiten »regionaler« Herkunft und es bleibt Spielraum für Fehldeutungen, aber auch für Fantasie.


LR: Es ist zu spüren, dass Deine Arbeiten zuletzt etwas weniger objektiv und dafür verspielter geworden sind. Solche Untertöne gab es in ihnen ja immer, aber hin und wieder werden diese jetzt recht klar und deutlich. In gewisser Weise schließt sich damit der Kreis zu einem der frühesten Bilder, das ich von Dir kenne: Eternity until Tomorrow (1992), jetzt in der Sammlung des Berkeley University Art Museum. Darin weitet sich eine kosmische Konstellation von Sehnsüchten, Schrecken und Fantasien explosionsartig über die gesamte Bildfläche aus.


SK: Ich habe mich den Arbeiten, die ich während meiner Zeit in San Francisco gemalt habe, immer in besonderer Weise verbunden gefühlt. Eternity until Tomorrow hat die Zeit der Jugend zum Thema, es handelt davon, jung und wütend, voller Liebe und voller Ungeduld zu sein.

In diesen frühen Bildern habe ich einige Grundzüge meiner Malerei entwickelt, die bis heute Merkmale meiner Bilder sind. Viele davon haben ihren Ursprung in den Techniken, die ich anwende. Die Motive sind zuerst als rein schwarze Zeichnungen entstanden, bevor ich weitere Farben hinzufügt habe – eigentlich genau so, wie ich heute Sepia benutze, um die Komposition eines Bildes anzulegen. Aus der Distanz betrachtet ergibt sich der Eindruck eines Tapetenmusters. Das Bild hat ein mysteriöses, undefinierbares Licht und der Hintergrund scheint aus abstrakten Wolkengebilden und Lichtreflexionen zu bestehen, die den Eindruck einer Art von fantastischer Parallelwelt erwecken. Damals wie heute ist das Auftragen der Farben der letzte Schritt in meinem Arbeitsablauf, noch immer versuche ich eine gedämpfte, aquarellartige Wirkung der Farben zu erreichen, indem ich sie in vielen dünnen lasierenden Schichten übereinanderlege.

In meinen neuesten Gemälden spielen die unterschiedlichen Eigenschaften von Licht eine entscheidende Rolle dafür, welche Emotionen ausgelöst werden und in Bezug auf das, was Du als Verspieltheit bezeichnest. In vielen meiner Arbeiten seit den Neunzigerjahren habe ich goldene, silberne und kupferfarbene Untermalungen benutzt, um ihre nostalgische Stimmung zu verstärken und um profanen und alltäglichen Szenerien eine herrschaftliche oder spirituelle Ausstrahlung zu verleihen. Der Goldton lässt ein sehr spezielles, diffuses Licht entstehen, das die Motive in eine unwirkliche, traumhafte Aura einhüllt.

Nach sehr viel Recherchen und Testversuchen mit verschiedenen Bildträgern, Grundierungen, Acrylfarben, Tuschen und Firnissen, gelang es mir, meine Farbpalette zu erweitern. In den neuen Bildern scheint die Tageszeit zu variieren, nicht identifizierbare Lichtquellen verursachen dunkle, unwirkliche Schatten. Die Farben bilden zarte Übergänge und seltsam verfärbte goldene Himmel scheinen Tag in Nacht und Nacht in Tag zu verkehren. Einige der neuesten Arbeiten könnten auch den Tatort eines Verbrechens abbilden oder von einem durch Studioscheinwerfer ausgeleuchteten Filmset stammen. In anderen erinnert das Licht an überbelichtete Fotos aus den Anfängen der Farbfotografie oder an Filmdokumente von den Atombombentests der Fünfzigerjahre, an die Sekunde, bevor Häuser und ihre Interieurs sich in nichts auflösen.

Während ich an diesen Bildern gearbeitet habe, hatte ich oft Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit vor Augen, zum Beispiel das gleißende Sonnenlicht vor schwarzer Himmelkulisse, kurz vor dem Ausbruch eines Gewitters. Manchmal hatte ich das Gefühl, als ob mich die Bilder dabei leiten würden, jedem Werk seine eigene, individuelle »Bühne« zu gestalten. In den vielfältigen Stimmungen, die sie durch das variierende Licht erzielen, zeigen sich auch Grade der Abweichung von der in früheren Arbeiten noch zu findenden Neutralität des Blickes. Hinter jedem einzelnen Bild scheint eine Geschichte verborgen zu sein, oder ein gut behütetes Geheimnis, das nie aufgedeckt werden wird.


 

Das Gespräch wurde im Januar 2013 auf Englisch geführt

(Deutsche Übersetzung: Stefan Kürten, David Gray)

 

aus 

Stefan Kürten – Here comes the Night  Papierarbeiten 2009-2013

 

mit Texten von Stephan Berg, Lawrence Rinder und Oliver Zybock

Der Katalog erschien anlässlich der Ausstellung 

Stefan Kürten - Silencer, Galerie der Stadt Remscheid, Mai/Juni 2013

Hrsg. Oliver Zybock

Erschienen im

Hatje Cantz Verlag, Ostfildern

, 2013